Online-Konferenz im Rahmen der vDHd2021 | 6.-8. September 2021
Kurator: Prof. Dr. Thomas Ernst (Antwerpen/Amsterdam)
Hier finden Sie die Abstracts und Kurzbiografien der Vortragen sowie die Abstracts und Kurzbiografien zur Projekt-Pitch-Sektion (Sie können auf anderen Seiten auch allgemeine Informationen zur #NetzLW21-Konferenz oder das Konferenzprogramm abrufen sowie eine docx-Datei mit sämtlichen Informationen).
Vorträge: Abstracts und Kurzbiografien
Dr. Gunhild Berg (Halle):
Soziale (Literatur-)Netzwerke. Zu einer Didaktik der Netzliteraturwissenschaft
Der Beitrag stellt Netzliteraturwissenschaft und ihre Didaktik vor, die Aspekte der Vermittlung digitaler Literatur und digitaler Literaturvermittlung fokussiert. Als Angewandte Netzliteraturwissenschaft untersucht sie die Merkmale, Bedingungen und Strategien der Produktion, Rezeption und Prosumtion, Distribution und Didaktik digitaler Literatur.
Netzliteraturwissenschaft und ihre Didaktik vertritt das Lehrlernen von Digital Literacy im Social Web, die u.a. literarästhetische Urteilskompetenzen über die Literarizität, Fiktionalität, Medialität digitaler Literatur, bspw. zur Unterscheidung von Fakt, Fake News, Fiktion und autofiktionalen Schreibweisen umfasst. Aufgezeigt werden ihre Prämissen und Arbeitsfelder zur digitalen Literatur in sozialen Netzwerken, die nur vermittelt werden kann, wo sie entsteht. Das veranschaulicht der Beitrag an der Entwicklung, Erprobung und Evaluation eines Vermittlungskonzepts zur digitalen Literatur in, mit und über soziale Netzwerke.
Dr. Gunhild Berg, studierte und promovierte 2005 in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg, lehrte und arbeitete an den Universitäten Halle, Konstanz und Innsbruck sowie an der University of Wisconsin-Madison, forschte mit (selbst eingeworbenen) Projekten zur Mediengeschichte und -gegenwart des Wissens u.a. am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, am Deutschen Museum München, am Forschungszentrum Gotha, leitete 2017-2019 ein Projekt zur digitalen Didaktik im Fach Deutsch an der Universität Halle-Wittenberg und ist seit 2019 ebenda wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur.
Prof. Dr. Maren Conrad (Erlangen-Nürnberg):
Performative Multimodalität – jugendkulturelle und -literarische Formate als Netzliteratur
Die Kulturtechnik des ‚Let’s Plays‘ hat sich mit dem wachsenden Erfolg der Plattform Twitch als neues jugendkulturelles Medien- und alternatives Fernsehformat etabliert und findet mit den neuen Erzählformen auf TikTok eine bemerkenswerte Fortsetzung. Performative Formate dieser Art weisen Anteile ‚echter‘ und fingierter Kommunikation einerseits und Merkmale einer Narrativität andererseits auf und realisieren mit ihrem Anschluss an partizipatorisch-kollektive Formen der Digitalität in bester Weise exemplarisch einige zentrale Merkmale der vernetzten Kultur der Digitalität (Felix Stalder). Ein wesentlicher Faktor der frühen Formen ist dabei die Multimodalität, insofern ‚Let’s Plays‘ ein komplexes Gefüge multimodaler Kommunikationen entwerfen, das ganz wesentlich auf der Basis vernetzter Interdependenz- und Interaktionsbeziehungen unterschiedlicher Zeichensysteme (in narrativen Formen) basiert.
Der Beitrag skizziert erste Überlegungen, wie Phänomene dieser Art fassbar gemacht werden können und versucht, die bisher getrennt stehende (literatur- und medienwissenschaftliche) Forschung zu transmedialen jugendliterarischen Formen, die kulturwissenschaftliche Forschung zum jugendkulturellen Format des ‚Let’s Plays‘ und die (semiotische und linguistische) Multimodalitätsforschung zusammenzudenken, um erste Potenziale einer Verknüpfung dieser Ansätze unter dem Dach der Netzliteraturliteraturwissenschaft zu skizzieren.
Prof. Dr. Maren Conrad ist seit April 2017 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der FAU Erlangen-Nürnberg. Zuvor promovierte sie an der Universität Kiel und war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster tätig sowie als DAAD-Lektorin an der Universität Cork in Irland. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem jugendkulturelle multimodale, transmediale und interaktive Erzählverfahren, Inklusion in der Kinder- und Jugendliteratur sowie prekäre Literaturen des 19. Jahrhunderts.
Prof. Dr. Thomas Ernst (Antwerpen/Amsterdam):
Wozu ‚Netzliteraturwissenschaft‘? Begründung, Systematisierung, Einführung
Die germanistische Auseinandersetzung mit Phänomenen der ‚Netzliteratur‘, also mit literarischen Formen und Kommunikationsweisen, die auf die Online-Vernetzung angewiesen sind, geht bis in die 1990er Jahre zurück. Seither haben sich vielfältige größere und kleinere Projekte und Veröffentlichungen mit diesem Forschungsgegenstand befasst, weshalb es an der Zeit ist, eine Netzliteraturwissenschaft zu systematisieren. Deren Aufgabe ist es, den Gegenstandsbereich netzliteraturwissenschaftlicher Forschung abzugrenzen, methodologische Zugriffe auf vernetzte literarische Formen und Kommunikationen in Sozialen Medien zu definieren, die bisherigen Erkenntnisse zu sammeln, Desiderate zu bestimmen und die Forschungscommunity zu organisieren.
Als Forschungsbereiche der Netzliteraturwissenschaft können die folgenden gelten:
- Netzliteraturwissenschaft: Geschichte, Erkenntnisse, Desiderate
- Literarische Reflexionen der Netzwerkgesellschaft
- Netzliteratur: Gattungen, Medienformate und Plattformen
- Netzliteratur: Qualitative und quantitative Analysen und Methodenreflexion
- Literaturkritik und literarische Kommunikation in Sozialen Medien
- Wandel literaturwissenschaftlicher Begriffe und Konzepte in der Netzwerkgesellschaft
- Literaturwissenschaftliche Netzkritik
- Netzliteratur in Bibliotheken und Archiven
- Didaktik der Netzliteraturwissenschaft und Digital Literacy
- Online-Wissenschaftskommunikation und digitales Publizieren in der Literaturwissenschaft.
Der Vortrag begründet die Notwendigkeit einer Netzliteraturwissenschaft, macht Vorschläge zur Systematisierung ihrer Forschungsbereiche und führt in die wichtigsten Fragen, Herausforderungen und Ziele der Konferenz „Netzliteraturwissenschaft: Was wissen wir? Wie wissen wir? Was wollen wir wissen?“ ein.
Prof. Dr. Thomas Ernst ist Kurator dieser Konferenz. Er lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Digitale Kulturen an der Universiteit Antwerpen. Daneben lehrt er an der Universiteit van Amsterdam und hält er eine Venia legendi für Germanistische Medienkulturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Dort wurde 2019 seine Habilitationsschrift Literatur als soziales Medium in der digitalen Gesellschaft. Zur Begründung einer Netzliteraturwissenschaft angenommen, die 2022 veröffentlicht wird und in der ein erster Ansatz zur Systematisierung einer Netzliteraturwissenschaft entwickelt wird. In seiner Forschung konzentriert er sich auf die digitale Medientransformation und ihre kulturellen Effekte (Literatur und Soziale Medien; die Geschichte des geistigen Eigentums; das digitale Publizieren), auf experimentelle und subversive deutschsprachige Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts (u.a. Dissertationsschrift Literatur und Subversion, 2013) sowie auf die Konstruktion von Identitäten, von Deutschland- und Europabildern, auf mehrsprachige und transkulturelle Räume in der deutschsprachigen Literatur.
Mehr Informationen: https://thomasernst.net/. Twitter: https://twitter.com/DrThomasErnst.
Prof. Dr. Andrea Geier (Trier):
Warum #RelevanteLiteraturwissenschaft? Relevanzfragen und Wissenschaftskommunikation in der Digitalität
#RelevanteLiteraturwissenschaft ist ein germanistisch-literaturwissenschaftliches Lehrangebot, in dem disziplinenspezifische und transdisziplinäre Relevanzfragen mit dem Ziel von Vernetzung und digitaler Partizipation gestellt und diskutiert werden. Die Titelschreibung verweist auf den Ursprung des ersten gleichnamigen Lehrprojekts auf Twitter im Jahr 2019, mittlerweile habe ich das Format an der Universität Trier etabliert und durch ein Angebot auf YouTube erweitert. In meinem Vortrag möchte ich erläutern, wie in diesem Lehrangebot innerfachliche und gleichzeitig öffentliche Relevanz-Debatten über die Bedeutung von Literatur und Literaturwissenschaft in der Gegenwart adressiert und niedrigschwellig für die Wissenschaftskommunikation verwendet werden können. Das Beispiel dient als Impuls für eine Diskussion darüber, wie wir mehr Lehrformate entwickeln können, in denen Grundfragen des literaturwissenschaftlichen Studiums in der Gegenwart – Stichwort: Literatur in gesellschaftlicher Digitalität – mit einer Reflexion des Rollenverständnisses von Lehrenden und Lernenden als Kommunikator*innen – Stichwort: Einblick in wissenschaftliche Praxis und gesellschaftspolitische Bedeutungsdimensionen wissenschaftlicher Inhalte – verbunden werden können.
Prof. Dr. Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Trier. Sie ist seit 2010 im Vorstand des Trierer Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) und seit 2020 im Vorstand der Fachgesellschaft Geschlechterstudien. Nach einem Studium der Germanistik, Allgemeinen Rhetorik und Empirischen Kulturwissenschaft promovierte sie mit einer Arbeit über „‚Gewalt’ und ‚Geschlecht’. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre“ an der Universität Tübingen. Sie arbeitete u.a. mehrere Jahre an der Universität Marburg und hatte in den letzten zehn Jahren drei Gastprofessuren in den USA. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören: deutschsprachige Gegenwartsliteratur, kultur- und literaturwissenschaftliche Gender Studies, Interkulturalitätsforschung und Postcolonial Studies, Rhetorik sowie Literatur im Medienwechsel. Informationen zu Publikationen, Wissenschaftskommunikation u.a.m.: https://www.uni-trier.de/index.php?id=29978
Dr. Guido Graf/Anna Moskvina, M.S. (Hildesheim)/Kristina Petzold, M.A. (Bielefeld):
Online-Rezensionen als rezensive Handlungen: Ausgewählte Ergebnisse aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt Rez@Kultur
Die Digitalisierung hat nicht nur die Art und Weise verändert, wie Literatur produziert wird, sondern auch, wie sie gelesen und rezensiert wird. Unverändert geblieben ist, so scheint es dagegen, die Art und Weise, wie auf Rezensionen als Textsorte geblickt wird. Die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts Rez@Kultur eröffnen demgegenüber neue Perspektiven zur Einordnung und Analyse rezensiver Online-Praktiken.
Im Rahmen des Rez@Kultur-Projektes wurden von 2017 bis 2020 an der Universität Hildesheim Online-Rezensionen zu Literatur und Bildender Kunst untersucht und dabei kulturelle Bildungsprozesse fokussiert. Mit einem gemischt-methodischen Forschungsdesign analysierte das Team aus Literaturwissenschaft, Kultureller Bildung, Computerlinguistik und Wirtschaftsinformatik digitale Rezensionsprozesse sowohl qualitativ als auch quantitativ. Die Datenbasis bildeten qualitative Interviews mit Expert*innen aus dem Feld sowie ein großes Korpus aus Online-Rezensionen von so unterschiedlichen Plattformen wie amazon.de, buechertreff.de und eigenständigen Weblogs.
Der Vortrag zielt darauf ab, die Fragestellung und Methodik sowie ausgewählte Ergebnisse aus dem Rez@Kultur-Projekt zu präsentieren, die u.a. die Vermutung nahelegen, dass es sich bei Online-Rezensionen nicht um eine feste Textsorte handelt. Stattdessen lässt sich belegen, dass sowohl die Plattform als auch das Subjekt selbst und seine angenommene Rolle einen großen Einfluss auf die Rezensions- und Bildungsprozesse haben und dass Wertungsprozesse weniger zentral sind, als es die Vorannahmen vermuten lassen. Das Forscher*innenteam plädiert damit für eine prozessuale und pragmatische Perspektivierung digitaler Rezensionsprozesse, die rezensive Praktiken in ihrer komplexen sozio-technischen Einbettung und als kulturelle Interaktionshandlungen ernst nimmt. Hierfür werden mögliche Theoretisierungen u.a. als medial vermittelte Interaktionsrituale und digitale Kulturtechnik vorgeschlagen.
Dr. Guido Graf ist Senior Researcher am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim. Er studierte von 1985 bis 1990 Germanistik, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft. Von 1990 bis 1993 erhielt er ein Stipendium der Arno-Schmidt-Stiftung Bargfeld. 1995 promovierte er sich an der Universität-GH Essen im Fach Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften. Von 1995 bis 1999 war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität-GH Essen und als Koordinator für das Studienfach „Literaturvermittlung und Medienpraxis“ tätig. Seit 1999 ist er freier Journalist für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk (Kritik, Feature, Hörspiel) und von 1999 bis 2012 war er freier Redakteur und Moderator des Büchermagazins „Gutenbergs Welt“ auf WDR3.
Anna Moskvina, M.S., hat theoretische, angewandte und experimentelle Linguistik an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau (2007 bis 2012) sowie Computerlinguistik an der Universität Stuttgart (2014 bis 2017) studiert. Seit 2017 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim. Von 2017 bis 2020 war sie Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Rez@Kultur und dort für die Sammlung und linguistische Bearbeitung von Forschungsdaten verantwortlich. Seit 2020 ist sie Mitglied in der German Society for Computational Linguistics and Language Technology (GSCL). In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Verwendung von neuesten Deep-Learning-Methoden in den Digital Humanities.
Kristina Petzold, M.A., hat Germanistik und Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2008 bis 2011) sowie Germanistik, Literatur und Medienpraxis an der Universität Duisburg-Essen (2012 bis 2015) studiert. Von 2016 bis 2017 war sie Mitglied im Promotionskolleg „Die Arbeit und ihre Subjekte“ an der Universität Duisburg-Essen. Von 2017 bis 2020 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären Forschungsprojekt Rez@Kultur an der Universität Hildesheim und forschte zu digitalen Rezensionsprozessen. Seit 2021 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld im SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“ im Teilprojekt „D05 – Vergleichendes Lesen“. Ihre Dissertation befasst sich mit der Diskursivierung von Buch-Blogs als Fan-Kultur, Literaturkritik und (Nicht-) Arbeit.
Prof. Dr. Svenja Hagenhoff (Erlangen-Nürnberg):
Es hängt alles am Kodex. Passt das noch?
Die Literatur und der Literaturbetrieb sind seit langem auf das kodexförmige Buch als klar konturiertes, fassbares mediales Artefakt fokussiert. Äußere Formen sind allerdings nicht sakrosankt und nicht ‚typisch‘, sondern abhängig von Zeit, Ort, Funktion, Kultur, Technologie; sie sind akzidentiell und gestaltbar. Die Gestaltungsmöglichkeiten werden im Digitalen tendenziell mehr, die Räume und Formen, in denen Literatur stattfinden kann, werden vielfältiger, die Literatur selber als ästhetisch-kulturelles Symbolsystem kann multimodaler und an den Rändern offener ausfallen.
Unsere wissenschaftlichen Zugänge werden durch diese Entgrenzungsprozesse gefordert: Begriffe erweisen sich ggf. als zu eng gefasst oder als zu konkret am (beliebigen) empirischen Objekt orientiert, abstraktere Zugänge hingegen diffundieren oft in die unfassbare Beliebigkeit. Handhabbare Theorien, mit denen nachhaltigere Analysen von Strukturen, Konzepten oder Paradigmen möglich sind anstelle der reinen Beschreibung zeitbezogener Phänomene fehlen uns noch weitgehend.
Hier setzt der Beitrag aus der Buchwissenschaft an: er versucht sich in stärker konzeptionellen Zugängen zu Begriffen wie Buch, Medium oder Schrift.
Prof. Dr. Svenja Hagenhoff arbeitet seit 2011 im Institut für Buchwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Professorin für E-Publishing und Digitale Märkte. Sie behandelt unter anderem Fragestellungen zur Gestaltung digitaler Schrift- und Lesemedien als Artefakte. Sie plädiert dafür, etablierte Printmedien nicht als Maßgabe für die Gestaltung digitaler Artefakte zu machen („digitaler Klon“), sondern die Digitalisierung zu verstehen als Vergrößerung der Möglichkeitsräume, die bewusst genutzt werden können und müssen.
Prof. Dr. Christiane Heibach (Regensburg):
Gespräch über Geschichte und Gegenwart der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Netzliteratur
Christiane Heibach und Jörgen Schäfer gehören zu den Literatur- und Medienwissenschaftler*innen, die sich schon um 2000 mit netzliteraturwissenschaftlichen Gegenständen beschäftigt haben, ihre Arbeiten spielen bis heute eine wichtige Rolle. In einem moderierten Gespräch reflektieren beide über ihre damalige Motivation, über Erkenntnisse und Methoden, aber auch über Herausforderungen und Schwierigkeiten, um schließlich einen Bogen von der Geschichte zur Gegenwart der Forschung über netzliteraturwissenschaftliche Fragestellungen zu schlagen.
Prof. Dr. Christiane Heibach ist seit 2016 Professorin für Medienästhetik am Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg. Davor war sie DFG-Stipendiatin an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (2009- 2013), Vertretungsprofessorin an der Universität Konstanz (2014/15) sowie Leiterin des SNF-Projekts „Gestaltete Unmittelbarkeit. Atmosphärisches Erleben in einer affektiv-responsiven Umgebung“ (2015-2017) am Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen der FHNW Basel. Promotion 2000 mit einer Dissertation zur Literatur im Internet; Habilitation 2007 an der Universität Erfurt mit einer Arbeit zur Geschichte und Theorie der multimedialen Aufführungskunst. Forschungsschwerpunkte sind Medienästhetik, Epistemologie der Multi- und Intermedialität; Theorie und Ästhetik Digitaler Medien, Medienökologien.
Publikationen: „Literatur im elektronischen Raum“ (2003); „Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform“ (2010); „Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens“ (Hg. 2012); „Ästhetik der Materialität“ (2015, Hg. mit Carsten Rohde); „Re/Visionen der Utopie. Kunsttexte Nr. 3” (2016, Hg. mit Angela Krewani und Irene Schütze); “Constructions of Media Authorship. Investigating Aesthetic Practices from Early Modernity to the Digital Age” (2020, Hg. mit Angela Krewani und Irene Schütze).
Prof. Dr. Berenike Herrmann (Bielefeld)/Dr. Thomas Messerli (Basel)/Dr. Simone Rebora (Bielefeld):
Platformed literary reviewing. Computationelle Analysen von Wertungspraktiken auf Lovelybooks
Entgegen der These vom Ende der Literatur als Folge der Digitalisierung werden im Netz diverse Literaturpraktiken intensiv betrieben – insbesondere von nicht-professionellen User*innen. In unserem Vortrag wollen wir anhand einer Fallstudie zur Rezensionsplattform Lovelybooks einen Einblick in eine wichtige digitale Literaturpraktik geben.
Unser Projekt verwendet auf einem Korpus von ca. 1.2 Mio. Laienrezensionen Verfahren des maschinellen Lernens um mittels Sentimentanalyse und automatischer Subjektivitätsklassifikation ein besseres Verständnis des “platformed literary reviewing” zu erlangen. Das Wertungsverhalten der User*innen wird so anhand der automatisierten Klassifikation operationalisiert und über plattformspezifische Gattungen (wie Roman, Fantasy, Klassiker), Sternebewertungen (1-5) und die Länge der Rezensionen beschrieben. Davon ausgehend werden in einem theoretischen Aufschlag Kontinuität und Differenz zur Literaturkritik und zu Praktiken des gemeinsamen Lesens diskutiert.
Die Resultate bestätigen unter anderem das Konzept des ‚Wreadings’ – die Kombination verschiedener Literaturtätigkeiten in einer Person – als vorherrschende Praktik auf der Literaturplattform; auch deuten Ergebnisse weiterer Studien (Kraxenberger & Lauer, eingereicht) darauf hin, dass die Nutzung von Literaturplattformen Lese- und Schreibaktivitäten erhöhen und verstärken kann.
Prof. Dr. Berenike Herrmann ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literaturtheorie/Digital Humanities an der Universität Bielefeld. Ihre Forschung verbindet systematische Fragen zu Stil, Wertung und Affekt mit literaturhistorischen Perspektiven unter Verwendung von Ansätzen der Computational Literary Studies. Sie leitet derzeit u.a. ein SNF-Projekt zu Affekt und Raum in der Deutschschweizer Literatur um 1900 und hat ein interdisziplinäres SNF-Forschungsprojekt zu Werten und Bewerten nach dem Machine Learning Turn vor Kurzem abgeschlossen. https://jberenike.github.io/about.html.
Dr. Simone Rebora holds a PhD in Foreign Literatures and Literary Studies (University of Verona) and a BSc in Electronic Engineering (Polytechnic University of Torino). He worked as a research fellow at the Universities of Göttingen and Basel. Currently, he works as a postdoc at the University of Bielefeld and he teaches comparative literature at the University of Verona, where he is assistant coordinator of the ELIT Network. His main research interests are theory and history of literary historiography, reader response studies, and the critical confrontation with methodologies such as distant reading and empirical aesthetics. His essays have appeared in journals such as “PLoS ONE”, “Digital Scholarship in the Humanities” and “Modern Language Notes”. He published the monographs Claudio Magris (2015) and History/Historie e Digital Humanities (2018).
Dr. Thomas Messerli ist Oberassistent am englischen Seminar der Universität Basel, wo er innerhalb der Hermann Paul School of Linguistics (HPSL) 2018 sein Doktorat in englischer Sprachwissenschaft abgeschlossen hat. Seine Dissertation ist 2021 als Monographie beim NIHIN Verlag unter dem Titel “Repetition in telecinematic humour: how US American sitcoms employ formal and semantic repetition in the construction of multimodal humour” erschienen. Seine Forschung in der Linguistik und in den Digital Humanities widmet sich insbesondere der Fiktionspragmatik, der Medienlinguistik und sprachlichen Praktiken der CMC (computer-mediated communication), wo gegenwärtig Wertungspraktiken, fanidentitätsstiftende Kommentare zu Videostreams und persuasive Redditposts Schwerpunkte darstellen.
PD Dr. Lore Knapp (Universität Bielefeld):
Literarische Prosablogs als Roman
Der Vortrag analysiert literarische Prosablogs vor dem Hintergrund der Gattungstraditionen von Tagebuch und Roman, beschreibt Formen des Spiels mit Fakt und Fiktion und stellt darüber hinaus Performativität, Multimedialität und Hypertext als bezeichnende Merkmale dieser Textform dar. Ausgehend von Rainald Goetz‘ Abfall für alle (1997/1998) analysiert Lore Knapp literarische Prosablogs wie Sofia Mandelbaums Ze Zurrealism itzelf, Alban Nikolai Herbsts Die Dschungel. Anderswelt oder den anonym veröffentlichten Hypertext Verifiktion aus den Jahren 2010-2021. Diese Beispiele zeichnen sich durch das prozessuale Veröffentlichen, neue Formen literarischer Fiktionalität ebenso wie durch audiovisuelle Medienkombinationen aus.
PD Dr. Lore Knapp verfolgt ein Interesse für literarische Prosablogs bezogen auf Fragen zur Performativität, Multimedialität, Gattungstypologie, Fiktionalität und Rezeption. Die medien- und erzähltheoretische Beschäftigung mit der Netzliteratur, zu der auch empirische Studien zum Lesen von Hypertexten gehören, ist Teil ihres Forschungsschwerpunktes im Bereich der Ästhetik. Sie promovierte an der FU Berlin zu Formen des Kunstreligiösen in Literatur, Theater und Philosophie der Gegenwart und habilitierte sich zur Geschichte der empirischen Ästhetik im Rahmen der Rezeption britischer Schriften in der Aufklärung. Zurzeit ist sie Akademische Rätin auf Zeit an der Universität Bielefeld.
Dr. Elias Kreuzmair (Greifswald):
Twitterliteraturwissenschaft. Soziale Netzwerke als Gegenstand quantitativer und qualitativer Analysen
Ob Blogs, Facebook oder Twitter Publikationsort, Thema oder Strukturelement sind, sie verändern, so eine zentrale Ausgangsthese des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren“ (Universität Greifswald), die Art und Weise, wie ein Text gemacht wird, wie und was erzählt wird – und wie Gegenwart gedacht wird. Die Plattform Twitter steht in diesem Kontext aus mehreren Gründen in einem besonderen Fokus des Projekts: Als trotz der audio-visuellen Möglichkeiten wesentlich textbasierte Plattform ist sie für literarische Aktivitäten eine naheliegende Wahl. Sie ist nicht nur Publikationsort von literarischen Texten, sondern auch Ort der Reflexion über literarische Texte und der Vernetzung literarischer Akteur*innen. Zudem drängen sich Fragen nach Gegenwartskonzepten und -effekten ob der Assoziationen der Plattform mit Kürze, Schnelligkeit und Unmittelbarkeit geradezu auf.
Als Untersuchungsgegenstand stellt sie Forschende jedoch vor spezifische Herausforderungen. Diese beginnen bei der Auswahl der Analyseobjekte (Welche Texte aus der Menge der Tweets werden Gegenstand? Wird ein Tweet nur durch seinen Text konstituiert? Inwiefern muss man Like- und Retweet-Counter einbeziehen? Wie geht man mit den Metadaten um?), setzen sich fort bei deren Archivierung (Reicht ein Screenshot? Lohnt es sich ganze Twitter-Archive herunterzuladen? Wie kann man die eigene Forschung nachvollziehbar machen?) und enden nicht in der Frage, was eigentlich passiert, wenn ein Tweet in einem Buch auftaucht. Der Vortrag stellt quantitative und qualitative Analyseverfahren vor, die im DFG-Projekt zum Einsatz kommen, und perspektiviert diese vor dem Hintergrund des weiteren Feldes einer Netzliteraturwissenschaft.
Dr. Elias Kreuzmair ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ am Institut für Deutsche Philologie der Universität Greifswald. 2020 erschien Pop und Tod. Schreiben nach der Theorie im Metzler-Verlag. Mehr: germanistik.uni-greifswald.de/kreuzmair.
Prof. Dr. Gerhard Lauer (Mainz):
Macht das Netz die Netzliteratur? Zur Konstruktion des Phänomens der Netzliteratur
In den literaturwissenschaftlichen Debatten um die Digitalisierung und ihre Folgen für Buch und Lesen dominiert die Annahme einer digitalen Sezession. Während ein großer Teil des Literaturbetriebs weitgehend unberührt von der digitalen Transformation weiterlaufe, habe sich ein neues Phänomen, die Netzliteratur, herausgebildet. Hatten zunächst in den Jahren um 2000 vor allem poststrukturalistische Theorien die Konstruktion des Phänomens bestimmt, leiten in der letzten Dekade eher praxisanalytische Konzepte die Forschung zur Netzliteratur an. Während die frühen Arbeiten mit großer spekulativer Reichweite das Feld zu sondieren versucht haben, bestimmen gegenwärtig Einzelstudien ohne größere theoretische Rahmung die literaturwissenschaftliche Forschung zur Netzliteratur.
In meinem Vortrag zeige ich, dass die Annahme einer Sezession der Netzliteratur nur schwer zu halten ist, vielmehr von einer digitalen Transformation des gesamten Literaturbetriebs auszugehen ist. Das Netz macht nicht die Netzliteratur, vielmehr greift die Digitalisierung viel tiefer in den Literaturbetrieb ein, verändert das Schreiben und die Autorschaft, die Wege der Veröffentlichung und das Lesen und Werten der Literatur. Damit verändert sich das Gegenstandsfeld der Literaturwissenschaft grundlegend und Überlegungen für eine Re-Konzeptualisierung des Fachs gewinnen an Dringlichkeit.
Prof. Dr. Gerhard Lauer ist Johannes Gutenberg-Professor für Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Schwerpunkte seiner Forschung sind computationelle Buch- und Literaturgeschichte und die experimentelle Leseforschung. Zuletzt erschienen ist „Lesen im digitalen Zeitalter“ (Darmstadt: wbg 2020).
Prof. Dr. Gunther Martens/Lore De Greve (Gent):
„Bisschen Josef Winkler, bisschen Ted Liu, bisschen Asimov“: Ein sentimentanalytischer Vergleich zwischen der Jury- und Laienkritik zum Ingeborg-Bachmann-Preis
Im Rahmen unseres vom FWO-Flandern finanzierten Forschungsprojektes „Evaluation of literature by professional and layperson critics: A digital and literary sociological analysis of evaluative talk of literature through the prism of literary prizes (2007-2017)“ versuchen wir, anhand einer digitalen und literatursoziologischen Analyse die Bewertung der Literatur von professionellen KritikerInnen und von sogenannten social oder small critics zu vergleichen. Das konkrete Vorgehen möchten wir am Beispiel der online Twitter-Diskussion zum Ingeborg-Bachmann-Preis (2007-2019) illustrieren. Wir werden die Bewertungskriterien, die in diesen Tweets zum Ausdruck kommen, mithilfe einer detaillierten Aspect-based Sentiment Analysis identifizieren. Diese Methode ermöglicht uns, festzustellen, welche Meinungen über einen bestimmten ‚Aspekt‘ oder ein bestimmtes Thema geäußert werden, z.B. über die Motive im Text, den Autor, die Lesung, die Jurymitglieder, den Preis selbst usw. Da sich inzwischen jährlich mehr als 1000 TeilnehmerInnen an dieser Online-Debatte beteiligen, werten wir das Korpus anhand von Annotation und Text Mining (semi)automatisch aus. Projektseite: http://www.talklitmining.ugent.be.
Prof. Dr. Gunther Martens ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Gent und Kodirektor des Ghent Centre for Digital Humanities. Er studierte Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Gent, Antwerpen und Eichstätt. Er hat eine viel beachtete Monografie über die rhetorischen und narratologischen Aspekte des deutschen literarischen Modernismus geschrieben und veröffentlichte sowohl andere Sammelbände als auch Artikel, die in Fachzeitschriften wie Style, Modern Austrian Literature, Recherches Germaniques, Orbis Litterarum, Neophilologus, Language and Literature usw. erschienen sind. Er ist Ehrenpräsident des European Narratology Network und Vorstandsmitglied der Internationalen Robert Musil Gesellschaft. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften Authorship, Frontiers of Narrative Studies, CLW, Alexander Kluge Jahrbuch und der Buchreihe Musil-Studien (Fink Verlag). Gunther Martens twittert unter @gumarten.
Lore De Greve studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Gent und Allgemeine Literaturwissenschaft an der KU Leuven. 2019 war sie Projektmitarbeiterin des ERC-Projekts „Constructing Age for Young Readers” („CAFYR”) an der Universitität Antwerpen. Sie arbeitet derzeit als Forscherin an der Universität Gent im Rahmen des Forschungsprojektes “Evaluation of literature by professional and layperson critics. A digital and literary sociological analysis of evaluative talk of literature through the prism of literary prizes (2007-2017)”, das von Prof. Gunther Martens, Prof. Daan Vandenhaute, Prof. Henk Roose, Prof. Lars Bernaerts und Prof. Veronique Hoste betreut und vom Flämischen Forschungsfonds (FWO-Vlaanderen) finanziert wird. Sie twittert unter @DeGreveLore.
Prof. Dr. Konstanze Marx (Greifswald):
280 Zeichen sind eine Welt. Poetische Tweets als internetlinguistischer Gegenstand
Eine der wesentlichen Fragestellungen, denen sich die Internetlinguistik derzeit widmet, lautet: Wie nimmt die Internettechnologie Einfluss auf unsere Sprache, auf unsere Kommunikation, auf unser Interaktionsverhalten und damit auch auf unsere Kultur? Soziale Medien als Hauptuntersuchungsfeld bilden dabei eine kommunikative Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion, deren literarische Dimension ganz besonders bei Twitter offenbar wird. Sie motiviert nicht nur die Rekonstruktion affordanzbasierter Interaktion, sondern auch der Textwelten, die auf minimalem Raum entstehen. Diese Prozesse möchte ich in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen.
Prof. Dr. Konstanze Marx ist Lehrstuhlinhaberin für Germanistische Sprachwissenschaft, Prorektorin für die Aufgabenbereiche Kommunikationskultur, Personalentwicklung und Gleichstellung sowie Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Deutsche Philologie an der Universität Greifswald. Sie wurde mit einer neurolinguistischen Arbeit zum Textverstehen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert und mit einer Arbeit zum Diskursphänomen Cybermobbing an der Technischen Universität Berlin habilitiert. Im Anschluss arbeitete sie als Professorin für die Linguistik des Deutschen in der Abteilung Pragmatik des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache Mannheim und an der Universität Mannheim. Ihre Schwerpunkte liegen in der Internetlinguistik, der Diskurs- und Textlinguistik, der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Sprache-Kognition-Emotion, der Genderlinguistik und der medienlinguistischen Prävention. Sie ist Preisträgerin des 25-Frauen-Awards von Edition F und Forschungspartnerin des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache Mannheim.
Prof. Dr. Julia Nantke (Hamburg):
Vernetzt – aber wie? Zur Analyse netzliterarischer Schreibweisen anhand verschiedener
Intertextualitätskonzepte
Netzliteratur ist durch eine Vervielfältigung der Verknüpfungen zwischen Texten und Akteur:innen gekennzeichnet. Die Kombination aus menschlichen und maschinellen Produktionsinstanzen, die Nutzung von massenweise online verfügbaren Texten als Input-Daten und die mit der Verbreitung im Netz verbundenen Möglichkeiten zur Nachnutzung und Anschlusskommunikation fordern auf unterschiedlichen Ebenen literaturwissenschaftlich etablierte Kategorisierungs- und Deutungsmuster heraus und werfen die Frage auf, wie diese vielfach vernetzte Literatur analytisch zu fassen ist.
Im Vortrag soll das etablierte literaturwissenschaftliche Konzept der Intertextualität, welches explizit auf die Erfassung literarischer Vernetztheit zielt, auf seine Leistungsfähigkeit zur Beschreibung und Analyse unterschiedlicher Ebenen der digital vermittelten Interaktivität von Netzliteratur hin befragt werden. Bei der Intertextualität handelt es sich allerdings weniger um eine geschlossene Theorie als um eine Sammelbezeichnung für verschiedene Ansätze zur Operationalisierung des von Julia Kristeva eingeführten Begriffs. Gerade diese partielle Offenheit des Konzepts soll als Ausgangspunkt für den Versuch genutzt werden, netzliterarische Texte zu beschreiben und zu analysieren.
Ausgehend von konkreten Beispielen soll im Vortrag gezeigt werden, wie unterschiedliche Ansätze der Operationalisierung von Intertextualität und daran geknüpfte analoge und digitale Untersuchungsmethoden dabei helfen können, Netzhaftigkeit auf den Ebenen der Produktion, Rezeption und Distribution analytisch zu erfassen. Aus dieser methodologischen Perspektivierung sollen weiterführende Erkenntnisse zur Beschaffenheit und ‚Funktionsweise‘ der untersuchten Gegenstände sowie zu deren Anschlussfähigkeit an und Abgrenzung gegenüber analogen Formen vernetzten Schreibens abgeleitet werden.
Prof. Dr. Julia Nantke ist Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete von 2010-2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal, zunächst am Projekt „Wie Kritik zu Kunst wird – Kurt Schwitters’ Strategien der produktiven Rezeption“, später als Postdoktorandin am Graduiertenkolleg 2196 Dokument – Text – Edition. Ihre Promotion ist erschienen unter dem Titel „Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit“ (Berlin/Boston: De Gruyter 2017; spectrum Literaturwissenschaft; 59). Seit 10/2019 ist sie Jun.-Prof. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digital Humanities für Schriftartefakte an der Universität Hamburg, seit 03/2020 Projektleiterin des Erschließungs- und Forschungsprojekts „Dehmel digital“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die digitale Literatur und digitale Literaturwissenschaften, Materialität und Medialität der Literatur, Literatur und Kunst der Avantgarden, Literaturtheorie und Editionswissenschaft.
Dr. des. Ann-Marie Riesner (Düsseldorf):
„Reassembling the digital literary“: Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie auf Netzliteratur blicken
Im Anschluss an Prämissen der Akteur-Netzwerk-Theorie und an Jörgen Schäfers These, „dass netzliterarische Werke als flüchtige Materialisierungen eines zwischen menschlichen Akteuren als Textproduzenten, -vermittlern und -rezipienten, Programmierer, Designer etc. und nicht-menschlichen Akteuren wie Computern als programmierbaren Maschinen, Interfaces etc. verteilten Kommunikationshandelns mit einem veränderlichen Text emergieren“, wird darauf geblickt, wie netzliterarische Texte sich in einem vielschichtigen Prozess mit mehreren Übersetzungsschritten konstituieren, deren vorläufiges Zwischenresultat der Leser oder die Leserin jederzeit auf der Textoberfläche finden (und damit wiederum interagieren) kann. Es wird argumentiert, dass keine ausschlaggebende Instanz der Bedeutungskonstitution isoliert bestimmt werden kann, sondern dass das Werk genau aus dem Zusammenspiel vieler menschlicher und nicht-menschlicher Akteure erwächst. Diese Lesart grenzt sich von materialistischen oder Technik-deterministischen, reinen Leser‑, Autor- oder Editor-zentrierten Ansätzen ab, entnimmt jedoch jedem Zugang wichtige Ansätze. Anhand einer Analyse von Thomas Hettches und Jana Hensels Mitschreibeprojekt „NULL“ (1999) wird gezeigt, dass Textmaterial und dessen Bedeutung sich in einem vielschichtigen Prozess mit mehreren Übersetzungsschritten konstituieren.
Dr. des. Ann-Marie Riesner wurde 2021 mit ihrer Dissertation Imaginationen des Internet in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 1999-2018. Gelesen mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als Fellow des „International Graduate Center for the Study of Culture“ (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität promoviert. Aktuell ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Weitere Informationen: https://www.germanistik.hhu.de/abteilungen/germanistik-ii-neuere-deutsche-literaturwissenschaft/univ-prof-dr-alexander-nebrig/team/ann-marie-riesner-ma.
Dr. Jörgen Schäfer (Siegen):
Gespräch über Geschichte und Gegenwart der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Netzliteratur
Christiane Heibach und Jörgen Schäfer gehören zu den Literatur- und Medienwissenschaftler*innen, die sich schon um 2000 mit netzliteraturwissenschaftlichen Gegenständen beschäftigt haben, ihre Arbeiten spielen bis heute eine wichtige Rolle. In einem moderierten Gespräch reflektieren beide über ihre damalige Motivation, über Erkenntnisse und Methoden, aber auch über Herausforderungen und Schwierigkeiten, um schließlich einen Bogen von der Geschichte zur Gegenwart der Forschung über netzliteraturwissenschaftliche Fragestellungen zu schlagen.
Dr. Jörgen Schäfer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter (tenured) am Germanistischen Seminar der Universität Siegen. Seit 2021 leitet er am dortigen SFB 1472 Transformationen des Populären das Teilprojekt „Pop, Literatur und Neue Sensibilität: Theorien, Schreibweisen und Experiment“ (gemeinsam mit Prof. Dr. Georg Stanitzek). Von 2002 bis 2012 arbeitete er im Teilprojekt „Literatur im Netz/Netzliteratur“ (Leitung: Prof. Dr. Peter Gendolla) im SFB 615 Medienumbrüche durch, seither leitet er gemeinsam mit Peter Gendolla die Forschungsstelle Literatur in elektronischen Medien (LEM) sowie das Archiv deutschsprachiger elektronischer Literatur (ADEL). Gemeinsam mit Francisco J. Ricardo gibt er die Buchreihe International Texts in Critical Media Aesthetics heraus.
Buchpublikationen zur Netzliteratur: Beyond the Screen. Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres (2010); Reading Moving Letters. Digital Literature in Research and Teaching: A Handbook (zus. mit Roberto Simanowski, 2010); The Aesthetics of Net Literature. Writing, Reading and Playing in Programmable Media (2007).
Dr. Claus-Michael Schlesinger / Prof. Dr. Gabriel Viehhauser (Stuttgart) / Mona Ulrich (DLA Marbach):
Netzliteratur archivieren: SDC4Lit – ein Science Data Center für born-digital Literatur
Das interdisziplinäre Science Data Center for Literature (SDC4Lit) zielt auf den Aufbau eines nachhaltigen Datenzentrums zur Sammlung, Langzeitarchivierung, Erschließung, Erforschung und Vermittlung von digitalen literarischen Quellen mit modernen informatischen Methoden.
Wir gehen davon aus, dass diese Komponenten eng miteinander verzahnte Aufgaben sind, die nur in einer interdisziplinären Anstrengung bewältigt werden können. Das Zentrum verbindet daher Partner aus den Bereichen Digital Humanities und Archiv: das HLRS Stuttgart, das DLA Marbach sowie das Institut für maschinelle Sprachverarbeitung (IMS) und die Abteilung Digital Humanities des Instituts für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart.
Der Aufbau einer solchen Infrastruktur ist angewiesen auf die intensive Einbeziehung der Forschungscommunity. In unserem Vortrag werden wir dabei insbesondere auf jene Aspekte eingehen, die den Dialog mit der Community betreffen: Wir präsentieren erste forschungsgeleitete Ansätze zur digitalen Analyse, Prozesse für das Forschungsdatenmanagement sowie Bemühungen zum Einbezug bereits bestehender Forschungsfragen und Arbeitspraxen aus der Community. Projektadressen: Web: https://sdc4lit.de | E-Mail: info@sdc4lit.de.
Dr. phil. Claus-Michael Schlesinger ist Literatur- und Kulturwissenschaftler und beschäftigt sich mit den Verhältnissen von Technik und Ästhetik in Geschichte und Gegenwart. Er arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Digital Humanities am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Elektronische Literatur, Geschichte und Theorie der Informationsästhetik, Wissensgeschichte der Meteorologie und Klimatologie, Digital Humanities. Web: https://esthet1cs.net. ORCID: https://orcid.org/0000-0001-6718-5773.
Mona Ulrich ist Preservation Manager (MA.) mit Schwerpunkt auf Webarchivierung und derzeit beschäftigt im Rahmen des Forschungs- und Infrastrukturprojekts Science Data Center for Literature. Sie ist Absolventin der Merz Akademie Stuttgart im Bereich Neue Medien und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart in Konservierung Neuer Medien und Digitaler Information.
Prof. Dr. Gabriel Viehhauser ist Professor für Digital Humanities an der Universität Stuttgart. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt in der mittelalterlichen Literatur und der Mitarbeit in einem digitalen Editionsprojekt zu Wolframs ‚Parzival‘ hat er sich zunehmend mit den Möglichkeiten der digitalen Editorik, aber auch der digitalen Textanalyse im Schnittpunkt von quantitativen und qualitativen Methoden befasst. Er ist einer von vier PIs des Projekts Science Data Center for Literature (SDC4Lit).ORCID: https://orcid.org/0000-0001-6372-0337.
Projektpitches: Abstracts und Kurzbiografien
Dr. Lucas Alt (Trier):
Digitalisierung lesen lernen – Überlegungen zu einer Didaktik der Netzliteratur (Habilitationsprojekt)
Die Digitalisierung scheint an den Schulen in vollem Gange. Trotz technischer Fortschritte, wie sie beispielsweise durch den Digitalpakt Schule ermöglicht werden sollen, mangelt es noch immer an einer zeitgemäßen Unterrichtsgestaltung. Dies gilt in besonderer Weise für den Deutschunterricht, den vielfach ein eher konservativer Text- bzw. Literaturbegriff bestimmt. Unterdessen werden Alltag und Freizeit sowohl von Lehrpersonen als auch Schüler:innen zunehmend von digitalen Kulturerzeugnissen strukturiert, die in ihren besonderen Bedingtheiten und Implikationen kaum hinreichend gedeutet werden (können).
Digitalisierung lesen zu lernen meint daher einerseits die Schulung multimodaler Analysekompetenz, das heißt die Schärfung aller Sinne für inter- und intramediale Bezugnahmen und Stilmittel, wie sie etwa Michael Staiger in seiner „Medienkulturdidaktik“ ausführlich beschreibt. Andererseits treten mit dem Digitalisierungsdiskurs spezifische kulturelle Kontexte und ihre Deutungsangebote immer deutlicher zutage, für die der Deutschunterricht sensibilisieren kann und sollte.
Als vielzitierte Impulsgeber erscheinen in jüngerer Vergangenheit unter anderem Felix Stalders Kultur der Digitalität oder Armin Nassehis Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft. Texte wie diese versuchen sich in einer umfassenden Beschreibung und Ergründung digitaler Kulturpraktiken und ebnen so den Weg für eine Historisierung der Digitalisierung als Kollektivphänomen. Eine solche distanzierte, geradezu ,postdigitale‘ Perspektive lässt sich im Zuge einer zeitgemäßen, eher kulturwissenschaftlich orientierten schulischen Vermittlung netzbasierter Textproduktion nutzen und noch erweitern, etwa um Aspekte der Philosophie (Post-/Transhumanismus etc.), der kritischen Ökonomie (Plattformkapitalismus etc.) oder der (Medien-)Soziologie (Aufmerksamkeitsökonomie etc.), um nur einige zu nennen. Omnipräsenten Erfahrungen der Immersion im Umgang mit digitalen Medien kann so ein Repertoire diskurssensibler Fähigkeiten und Kompetenzen zur Seite gestellt werden, das kritische und zeitgemäße Deutungen ermöglicht.
Dr. Lucas Alt ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Von 2008 bis 2015 studierte er Germanistik und Politikwissenschaft, promovierte 2018 zu Ökonomien der Lust und des Genießens im Angestelltenroman und legte 2020 das zweite Staatsexamen für Lehramt an Gymnasien ab. Derzeit forscht er zu Literaturdidaktik und Digitalisierung.
Dr. Yuliya Fadeeva (Universität Duisburg-Essen):
Autor:innen und Rechtssicherheit für Open Access – Projekt AuROA (Forschungsprojekt)
Im Forschungsprojekt AuROA werden Musterverträge für Open-Access-Publikationen entwickelt und für mehr Kooperation und Standardisierung gearbeitet. Die Universitätsbibliothek der Universität Duisburg-Essen arbeitet für das BMBF-geförderte Projekt zwei Jahre lang eng mit der Abteilung Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und dem Fachbereich Kommunikation und Wirtschaft der IST-Hochschule in Düsseldorf zusammen. Stakeholder-Workshops stellen dabei sicher, dass die Perspektiven aller am Publikationsablauf beteiligten Akteur:innen in die Musterverträge eingehen. Ein aufgabenzentrierter Leistungskatalog über die Bedarfe und Optionen bei einer Open-Access-Publikation soll den Ablauf einer Veröffentlichung transparenter und einfacher gestalten.
Kernziel des Verbundprojekts AuROA ist die Entwicklung von rechtssicheren, vielfältig einsetzbaren Musterverträgen. Diese decken Themen ab wie wissenschaftliche sowie technische Qualitätssicherung, vereinbarte Dienstleistungen, Nutzungsrechte und freie Lizenzen. Die Verträge sollen den hohen Standards wissenschaftlicher Publikationen einen rechtssicheren Rahmen geben und Unsicherheiten sowie Vorbehalte gegenüber Open Access bei allen Beteiligten abbauen.
Website: https://projekt-auroa.de/. Twitter: https://twitter.com/Projekt_AuROA.
Dr. Yuliya Fadeeva ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt AuROA, vorher im Projekt OGeSoMo (Open Access in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Schwerpunkt Monografien) und im Bereich Open Access in den Geisteswissenschaften an der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen. Ihre thematischen Schwerpunkte sind begriffliche und wissenschaftssoziologische Aspekte der Open-Access-Transformation in der Wissenschaftskommunikation. Sie promovierte 2019 in Philosophie und Kommunikationstheorie an den Universitäten Wien und Duisburg-Essen (Cotutelle-Verfahren).
Prof. Dr. Carolin Führer (Tübingen):
Digitalität und Literaturdidaktik (Forschungsprojekt)
Anhand von Erfahrungen und Begleitforschungen aus einem Lehrprojekt mit Lehramtsstudierenden (Lachner et al. 2021), das seit 2018 kontinuierlich Fragen der Digitalität im Fach Deutsch aushandelt und praktisch erprobt, können offene Fragen mit Blick auf ästhetische Rezeptionsprozesse diskutiert werden.
Prof. Dr. Carolin Führer ist Lehrstuhlinhaberin für Deutsche Philologie / Didaktik der Deutschen Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie hat an einer empirischen Studie zur Digitalisierung in der Lehrerbildung mitgearbeitet (Fostering Pre-Service Teachers’ Technology Integration: A Cluster-Randomized Field Study, in: Computers & Education 174 (2021)) und u.a. veröffentlicht zur ästhetischen Rezeption in digitalen Lernszenarien (mit Judith Preiß, in Maurer/Rincke/Hemmer 2021) und zum digitalen Lesen in der Hochschule (mit Britta Eiben-Zach et al., in MedienPädagogik, i.E.).
Mag.a Patricia Gentner (Wien):
Literarisches Kapital 2.0 (Dissertationsprojekt)
Das von Pierre Bourdieu vor drei Jahrzehnten als „Grad der feldspezifischen Konsekration (des literarischen und künstlerischen ‚Prestige‘)“ definierte literarische Kapital wurde im Zuge der Digitalisierung und insbesondere durch die Sozialen Medien in Struktur, Form und Werterelationen verändert beziehungsweise von literarischem Kapital 2.0 ergänzt. Das im literarischen Feld dominante soziale Kapital, also Anerkennung von anderen AkteurInnen, wurde durch Bewertungszahlen, Reichweite, Likes etc. quantifizierbar, manipulierbar, wie durch Clickbots, und relational (Rankings). Der Transfer in ökonomisches Kapital erfolgt immer einfacher und effizienter, wie bei Verlagsverträgen oder Sponsoring. Diese neuen Formen reflektieren jedoch immer auch die Strategien und Regeln der PlattformbetreiberInnen und sind durch deren Willkür volatil. Auf der anderen Seite veränderte sich die Machtstruktur der Konsekration: Bisherige Meinungsbildner (Verlage, KritikerInnen, AutorInnen und WissenschaftlerInnen) verloren gegenüber der ‚Schwarmintelligenz‘ der RezipientInnen, Algorithmen der Plattformen, der Dynamik von Communities und neuen AkteurInnen (Influencern) an Relevanz. Hinzu kommt das essentielle, aber etwas marginalisierte kulturelle Kapital (Bildung und Wissen). In seiner digitalen Ausprägung findet es sich objektiviert in Algorithmen, technischer Innovation und Produktionsmitteln, oder inkorporiert als digital skills.
So neuartig das digitale Kapital erscheint, folgt es aber auch partiell den Bourdieuschen Regeln, wie die förderliche Homogenität einer Gruppe oder Distinktionsmechanismen. Paradigmatisch findet die Verschleierung der Monetarisierung, die Bourdieu beim sozialen Kapital erkennt, auch in Sozialen Medien statt, wie durch Affiliate-Links, Sponsoring oder einfach nur die Macht der Konsekration anderer KollegInnen. So führte Facebook sogar die Funktion ein, seine Freunde zu verbergen. Doch eigentlich liegt die Stärke der community als soziales Kapital gerade in ihrer Transparenz. Denn jede/r kann jederzeit einsehen, dass jemand mit 600.000 Follower bedeutend ist.
Wie diese erste Skizze demonstriert, bietet der Vergleich des analogen und digitalen literarischen Kapitals aus feldtheoretischer Perspektive ein konstruktives Verständnis für die Erfolgs- und Legitimationsmechanismen im literarischen Feld.
Mag.a Patricia Gentner promoviert in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Wien zum Thema „Einflüsse der Digitalität auf das literarische Feld“. Im Podcast „Buch & Kekse“ diskutiert sie als Co-Host über digitale Transformation im Buchmarkt. Ihr Interesse an digitaler Literatur begann bereits im Diplomstudium und führte zur Magisterarbeit „IndieBook. Interactive and Automatic Generation of Fictive Worlds“.
Dr. Pola Groß / Dr. Hanna Hamel (ZfL Berlin):
Neue Nachbarschaften. Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur (Veröffentlichungs- und Forschungsprojekt)
Unter diesem Titel würden wir gerne Folgendes knapp vorstellen:
1. Wir gestalten ein Themenheft in Sprache und Literatur 1/2022, das die Ergebnisse der Konferenz „Neue Nachbarschaften. Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur“ bündeln wird.
2. Wir stellen unser Projekt „Autor*innen- und Lebensstile. Communitybuilding in der Gegenwartsliteratur“ vor: Milieus, Communities oder Stilgemeinschaften scheinen in der Gegenwartsliteratur immer wichtiger zu werden. Das wird durch die sozialen Medien noch verstärkt. Autor*innen werden im Feuilleton oder in Buchbesprechungen im Netz vermehrt über ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen gebündelt oder ordnen sich und ihr Schreiben selbst solchen zu. Die Gruppenzugehörigkeit generiert sich in den meisten Fällen nicht mehr über eine theoretische oder formale Position, sondern v.a. über eine soziale Milieuzugehörigkeit, die häufig auch problematisierter Gegenstand des literarischen Textes ist, der in biographischem Zusammenhang mit den Schreibenden steht. Oft geht damit eine entsprechende Selbstinszenierung in den sozialen Medien einher.
Wenn für den aktuellen Diskurs zwischen Literaturkritik, Literaturbetrieb und Leseschaften Lebensstil und Milieuzugehörigkeit der Autor*innen zu einem, wenn nicht zu dem zentralen Kriterium der Einordnung und Bewertung von Texten geworden sind, stellt sich die Frage, wie die Literatur diesen Zugriff aufnimmt, damit umgeht und darauf reagiert: Welche formal spielerischen Umgangsweisen mit dem Thema Milieu, Communitybuilding und Lebensstil gibt es? Welche Funktion nehmen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien ein, durch die sich Autor*innen direkt mit ihrem Publikum in Verbindung setzen können? Gibt der Social Media-Auftritt der Autor*innen Aufschluss über das in der Literatur verhandelte Milieu oder über die in den Texten beschriebenen Communities? Wie wird die übereilte Identifikation von Autor*in und Erzähler*in durch Social-Media-Auftritte bestätigt oder aber unterwandert und parodiert? Und wie weit kommt man, wenn man das Communitybuilding der Autor*innen selbst (oder dessen Verweigerung) in den sozialen Medien mitbetrachtet? Diesen Fragen möchten wir in einem gemeinsamen Projekt nachgehen.
Dr. Pola Groß studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Geschichte an der Universität zu Köln und promovierte dort 2018 mit der Arbeit „Adornos Lächeln. Das ‚Glück am Ästhetischen‘ in seinen literatur- und kulturtheoretischen Schriften“ (de Gruyter 2020). Seit 2019 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stil und Stilisierung, Gegenwartsliteratur, Kritische Theorie und Heiterkeit in Literatur und Philosophie. Zusammen mit Hanna Hamel organisierte sie 2020 die Konferenz „Neue Nachbarschaften. Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur“ im Literaturforum im Brecht-Haus.
Dr. Maria Kraxenberger (Stuttgart):
Wreading auf digitalen Literaturplattformen (Forschungsprojekt)
Im starken Gegensatz zum oft beklagten Ende des Lesens nutzen über 100.000 User*innen täglich Literaturplattformen wie Wattpad.com, Fanfiction.net oder Sweek.com um frei zugängliche Texte zu lesen, zu kommentieren und selbst zu verfassen.
Hierbei sind die jeweiligen Schreib- und Lesepraktiken bedingt durch die Digitalisierung – und vor allem durch die immer weiter zunehmende Nutzung von sozialen Medien, zu denen auch Literaturplattformen zählen – relativ starken Veränderungen unterworfen. Ungeachtet der rasant wachsenden Bedeutung solcher Plattformen hat die Forschung dieses ‚andere‘ Lesen und Schreiben bisher aber nur wenig beachtet. Zudem haben, abgesehen von einigen plattforminternen Erhebungen, nur sehr wenige quantitative Studien die Demografie digitaler Leser*innen und Autoren*innen näher untersucht.
Vor diesem Hintergrund wurde an der Universität Basel eine Umfrage unter aktiven Nutzer*innen von Literaturplattformen durchgeführt (N = 315). Ziel dieser explorativen Studie ist es nicht nur, ein besseres Verständnis über die demographische Zusammensatzung der Nutzer*innen von Literaturplattformen zu erlangen, sondern auch ihre spezifischen Nutzungspraktiken und -Motivationen, sowie ihre soziale Interaktion untereinander besser verstehen zu können.
Die Resultate bestätigen unter anderem das Konzept des Wreadings – die Kombination verschiedener Literaturtätigkeiten in einer Person – als vorherrschende Praktik auf Literaturplattform; auch deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass die Nutzung von Literaturplattformen Lese- und Schreibaktivitäten erhöhen und verstärken kann.
Dr. Maria Kraxenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literaturwissenschaft (NDL I) der Universität Stuttgart. Ihre Forschungsinteressen umfassen empirische Literaturwissenschaft, Klang-Emotions-Assoziationen und Klangeffekte in der Lyrik sowie analoge und digitale Literatur und Lesepraktiken im 21. Jahrhundert. https://www.ilw.uni-stuttgart.de/institut/team/Kraxenberger/.
Caterina Richter (Graz):
Praxeologischer Zugang zu digitalen literarischen Artefakten unter besonderer Berücksichtigung (sozio-)politischer Interventionen (Dissertationsprojekt)
Ausgangspunkt meines Projektes ist die These, dass die konstante Weiterentwicklung der Publikations- und Distributionsmöglichkeiten im Internet einen anderen Analysezugriff ermöglicht. Daher liegt meinem Projekt ein handlungsorientierter Zugang zugrunde, der – unter anderem beruhend auf Nick Couldry’s Arbeiten zu Digital Practices – einen konstruktiven Beitrag zur künftigen Untersuchung literarischer digitaler Artefakte leisten soll. Hinter diesem theoretischen Fokus steht die praktische Analyse jener digitaler Artefakte, die von deutschsprachigen Autor:innen im Internet (sei es auf eigenen, Verlags- oder sozialen Netzwerkseiten) veröffentlicht wurden. So soll mein Projekt eine Übersicht bieten über die Diversität der digitalen literarischen Praktiken von deutschsprachigen Autor:innen und dies in Detailanalysen von Arbeiten beispielsweise von Clemens J. Setz, Stefanie Sargnagel, Marlene Streeruwitz, aber auch Sibylle Berg, im Detail ausführen. Der Korpus generiert sich aus jenen Autor:innen, die sich in der einen oder anderen Form bereits im literarischen Feld verankern konnten – als Indikatoren sollen hier beispielsweise literaturwissenschaftliche Autor:innenverzeichnisse oder gewonnene Literaturpreise genannt werden (trotz der zu hinterfragenden Machtdistributionen und anderer kritisch zu bewertender Aspekte). Zudem erfolgt die Aufnahme unterschiedlicher digitaler Praktiken bei Autor:innen häufig unter dem Gesichtspunkt von (sozio)politischen Intentionen, also um sich zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen zu positionieren, zu Aktionismus aufzurufen oder Leser:innen direkt anzusprechen. In der Analyse der Artefakte soll dieser Aspekt besonders großen Raum einnehmen.
Caterina Richter, M.A., promoviert als assoziiertes Mitglied im Doktoratsprogramm „Kultur-Text-Handlung” an der Universität Graz zum Thema Digitale Praktiken soziopolitischer Positionierung in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Weitere Akzente in ihrer Ausbildung sowie beruflichen Laufbahn in Andragogik und Medienwissenschaften. Seit 2016 Mitarbeiterin der Technischen Universität Graz; von 2017-2018 wissenschaftliche Projektassistentin, seit 2020 Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik in Graz. Aufsätze zur praxeologischen Ansätzen der Literaturanalyse (Heinritz/Huber/Smirnov 2020) und zu Literatur im Digitalen & Ökonomie (Becker 2020); Mitherausgeberin des Tagungsbandes Literatur – Geschlecht – Ökonomie (Hrsg. von Kernmayer/Reiter/Richter/Schmutz 2022).
Johannes Spengler (HU Berlin):
Literaturkritik als Content: Vernetzungsstrategien von Laienkritiker*innen (Dissertationsprojekt)
Obwohl literaturkritische Blogs und Social-Media-Accounts längst keine Neuheit mehr sind, ist die Diskussion über den Status der ‚Laienkritik‘ immer noch im vollen Gang. Nicht selten wird die im Internet stattfindende Literaturkritik dabei als „unerwünschte Konkurrenz“ (Löffler 2020) des Zeitungsfeuilletons dargestellt, ohne die formelle, inhaltliche und auch qualitative Vielfalt der Sphäre zu berücksichtigen. Amazon-Rezensionen werden mit Blog-Artikeln gleichgesetzt, Blog-Artikel von feuilletonistisch orientierten Seiten mit Rezensionen von Hobby-Leser*innen oder gar Schüler*innen, engagierte Laienkritiker*innen mit werblich (und gewerblich) agierenden Blogger*innen.
Die literaturwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens wiederum hat sich bisher vor allem auf die Rezension als maßgebliches Format der Literaturkritik fokussiert (vgl. u.a. Bachmann-Stein 2015). Unterschlagen werden dadurch die internetspezifischen Paratexte (Ratings, Verlinkungen, Likes), die Wertungsfunktionen und Kontextualisierungen sowie das Transparentmachen von Kriterien übernehmen können und den Bewertungstext um diese Elemente ‚erleichtern‘. Durch den Fokus auf Rezensionen sind darüber hinaus die Vernetzungsstrategien von Blogger*innen nur nebensächlich betrachtet worden. Dabei wird gerade im Bereich der Laienkritik in Gruppen gelesen und bewertet (Porombka 2018), werden Challenges veranstaltet und Urteile in Kommentaren diskutiert. Im Rahmen einer „genuinen Internet-Literaturkritik“ (Ernst 2015) haben sich Formen des literaturkritischen Austauschs entwickelt, für die eine klassische Rezension erst den Ausgangspunkt einer diskursiven Verwertungskette darstellt. Subjektive Werturteile sind hier immer schon als Teil einer Interessensgemeinschaft gedacht, die sich in Wettbewerben (Thomalla 2018), Leserunden (Schmitt-Maaß 2010) und Abstimmungen konstituiert.
Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Online-Literaturkritik ist es deshalb zuerst notwendig, die Blogsphäre als heterogene Sammlung von Kritiker*innen zu begreifen, und als solche abzubilden. Im Rahmen meiner Dissertation möchte ich mithilfe einer Netzwerkanalyse die unterschiedlichen Blog-Communities darstellen (sehr frühes Stadium, zurzeit befindet sich ein Korpus von 150 Blogs im Aufbau, die der Topliste der deutschen Buchblogger [Zeising 2021] entnommen sind). Grundthese der Arbeit ist, dass es sich bei der Blogsphäre um autonome Sphären handelt, die sich durch verschiedene Grade der Professionalität, Orientierung an Feuilleton oder Werbung auszeichnen – und sich durch unterschiedliche Praktiken des Bewertens und der Vernetzung voneinander abgrenzen. Dafür bieten sich weitere Analysemethoden wie die Stilometrie an, die zum bisherigen Stand allerdings noch keinen Eingang in die Arbeit gefunden haben.
Johannes Spengler, M.A., promoviert im DFG-Graduiertenkolleg 2190 „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für die Arbeit „Literaturkritik als Content: Praktiken des Bewertens, Sammelns und Teilens auf Buchblogs und in sozialen Medien“ untersucht er die Vernetzungs- und Abgrenzungsstrategien von Laienkritiker*innen. Zuvor studierte er in Erfurt und Berlin. Aufsätze zu kleinen Wertungen in der literaturkritischen Kommunikation (in: Ruf/Winter 2021) und zu „Nutzen (und Nutzlosigkeit) von YouTube-Tutorials“ (in: Archiv für Mediengeschichte 19 [2021]). Mehr Informationen: http://www.kleine-formen.de/?team=johannes-spengler.
Dr. Tobias Unterhuber (Innsbruck):
Digitalisierung – Erzählen von einer Zäsur (Tagungsvorstellung)
Vom 21. bis 23. Januar 2021 fand an der Universität Innsbruck die Tagung „Digitalisierung – Erzählen von einer Zäsur“ statt. Im Fokus stand dabei die Frage, mit welchen erzählerischen Mitteln die mediengeschichtliche Zäsur der Digitalisierung zur Darstellung gebracht und in welche kulturgeschichtlichen Narrative von Zäsur, Medienwandel oder gar Medien(r)evolutionen sie möglicherweise eingebettet bzw. in welches Verhältnis sie zu ihnen gesetzt wird. Dabei wurden sowohl ‚klassische‘ motivgeschichtliche Ansätze (Digitalisierung und digitale Medien als Motiv) wie auch Analysen von Erzählstrukturen und textübergreifenden Narrativen und/oder Diskursen berücksichtigt. Ein besonderes Interesse galt zudem mediengeschichtlichen Reflexionen über die veränderten Rahmenbedingungen und Strukturen des Erzählens in der digitalen Moderne. Hier wurden unter anderem Formen des digitalen Erzählens als performative Auseinandersetzung mit einer digitalen Umwelt untersucht oder auch das Entstehen neuer Erzählformen. Und nicht zuletzt wurde das Verhältnis einzelner Erzählungen zur ‚Großerzählung‘ der Digitalisierung als einer neuen mediengeschichtlichen Zäsur thematisiert. Mehr Informationen: https://www.uibk.ac.at/germanistik/digitalisierungstagung/digitalisierungstagung.html.
Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in München und Berkeley. 2018 promovierte er mit der Arbeit „Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht“. Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Er ist Herausgeber der Zeitschrift PAIDIA sowie der Zeitschrift für Fantastikforschung. Forschungsinteressen: Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie, Gender Studies, Medienkulturgeschichte und kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.